von Fabian Hock

Die Digitalisierung kommt — und warum sollte sie ausgerechnet vor dem eigenen Heim Halt machen? Wir haben ein sogenanntes intelligentes Haus Holland besucht. Unser Fazit: Wir dürfen uns auf die Zukunft freuen. Ganz problemlos ist sie aber nicht.

«Fernsehmodus aktivieren», sage ich zum Haus der Zukunft und das Haus antwortet: «Okay, Fernsehmodus ist aktiviert.» Wie von Geisterhand schliessen sich die Vorhänge, die Wohnzimmerlampe taucht den Raum in ein warmes, gelbliches Licht und der Fernseher geht an. Das einzige, was mich jetzt noch von einem gemütlichen Filmabend trennt: ich sitze nicht in den eigenen vier Wänden, sondern in einem umgebauten Container im holländischen Utrecht.Ganz in der Nähe der Hauptstadt Amsterdam hat der Schweizer Elektrotechnikkonzern ABB einen Eindruck davon geschaffen, wie er sich das Wohnen von Morgen vorstellt. 300 Quadratmeter im «Living Space Experience Center», das an ein hochpreisiges Möbelhaus erinnert, hat er dafür angemietet. Hinzu kommen die etwa 30 Quadratmeter im mobilen, auf einem Anhänger aufgesetzten Container, der draussen vor dem Eingang parkt.

Alles im Haus der Zukunft ist miteinander vernetzt. Der Rollladen weiss, wie hoch die Temperatur im Raum ist. Steigt diese über 25 Grad, fährt er runter, um keine Sonne mehr reinzulassen. Zeigt der Windmesser an der Fassade eine Zahl über einem bestimmten Grenzwert an, fährt der Rollladen automatisch wieder hoch, um Schäden zu vermeiden.

Der Bewegungsmelder am Bett

Und noch mehr Praktisches entdecke ich im ABB-Zukunftshaus: Die Bewegungsmelder neben dem Bett zum Beispiel, die nur auf der Seite das Licht anschalten, an der ich aus demselben herausrolle. Von dort weisen Lampen mit reduzierter Leuchtkraft automatisch den Weg zur Toilette. Wo sollte ich auch sonst hin, mitten in der Nacht? Vor dem Verlassen des Hauses am Morgen reicht ein Tastendruck und sämtliche Lichter und elektrische Geräte schalten aus. Gut für alle, die auf dem Weg in die Ferien schon mal umgekehrt sind, um den Herd auszuschalten.

«Pöstler, stell es in den Garten»

Für den ABB-Konzern, der vor allem für seine riesigen Stromtransformatoren und Roboter bekannt ist, wird die Haus- und Gebäudetechnik immer wichtiger. «Im Bereich der Niederspannungsprodukte», sagt Bernhard Caviezel, «gehört sie zu den Hauptwachstumstreibern». Seit 25 Jahren beschäftige sich ABB mit Gebäudeautomatisierung. Caviezel war von Anfang an dabei.

Heute ist er zuständig für das Produktmarketing und gehört der Leitung des lokalen Bereichs Niederspannungsprodukte an. Ein Smart Home, also ein intelligentes Haus, muss für Caviezel vor allem eines tun: das Leben der darin Wohnenden einfacher machen. «Wenn der Pöstler klingelt und ich bin nicht da, ist es doch praktisch, wenn ich sofort ein Signal auf mein Smartphone bekomme, den Pöstler über die Gegensprechanlage anrufen und ihm sagen kann: stell das Paket bitte in den Garten.»

Hinzu kommt die höhere Energieeffizienz. Laut einer aktuellen Studie von EnergieSchweiz könnte der Energiebedarf der Gebäude bis 2050 mit der heutigen Technik um bis zu 23 Prozent reduziert werden. Die Treibhausgas-Emissionen würden dann gar um 38 Prozent sinken. Das Einsparpotenzial ist besonders deshalb interessant, weil etwa 45 Prozent des Schweizer Energiebedarfs in Gebäuden anfällt. Ein Smart Home «muss nicht überall blinken», sagt Caviezel, stattdessen müsse die Technik dem Besitzer einen echten Nutzen bringen, zum Beispiel bei der Effizienz und vor allem auch bei der Sicherheit.

Senioren profitieren

Ein entscheidender Treiber der Entwicklung hin zum automatisierten Haus ist denn auch eine Gruppe, die man vielleicht nicht ganz oben auf der Liste hätte: die Senioren. Der demografische Wandel vergrössert diese Gruppe von Jahr zu Jahr – und die allermeisten Menschen wollen so lange es nur irgend geht, in den eigenen vier Wänden wohnen bleiben.

Technische Unterstützung wie etwa Bewegungsmelder, die nicht nur Anwesenheit registrieren, sondern merken, wenn sich jemand für eine gewisse Zeit nicht mehr bewegt und automatisch einen Notruf an eine zuvor definierte Nummer absetzen, können die Zeit in der eigenen Wohnung verlängern. «Das smarte Haus merkt», so schreiben es die Forscher vom Gottlieb Duttweiler Institut (GDI), «wenn mit seinen Bewohnern etwas nicht stimmt: ein grosser Mehrwert gerade in unserer alternden Gesellschaft».

In Utzenstorf (BE) kann das in Kürze in der Praxis betrachtet werden. Dort, erzählt ABB-Mann Caviezel, beliefert der Konzern ein vernetztes Haus mit 54 Wohnungen, in dem Senioren, Familien und jüngere Menschen leben sollen. Die Form der Vernetzung ist beliebig skalierbar: für die Jungen eine Smartphone-Steuerung für Licht, Raumtemperatur und Türkommunikation, in den Wohnungen der Älteren können «auf Wunsch Services rund um das Thema Betreuung, Sicherheit und Dienstleitung angeboten werden.»

Vor dem Durchbruch

Bis heute allerdings hat die vernetzte Technik in die wenigsten Häuser Einzug gehalten. Versprochen wurde der Durchbruch immer wieder und mit derselben Regelmässigkeit wurden neue Applikationen auf den Markt geworfen. Bisher ohne durchschlagenden Erfolg.
Caviezel sieht indes eine Entwicklung, die das Blatt zu Gunsten des vernetzten Heims wenden könnte: Das schlaue Haus ist bezahlbar geworden.

So auch bei ABB: War die Haustechnik des Konzerns bisher nur in der Luxusvariante mit sogenannter «KNX»-Technologie vorhanden und Villen, Hotels und Bürogebäuden vorbehalten, wendet sich ABB nun auch an die Mittelschicht: «free@home» heisst die abgespeckte Variante. Diese steckt im Container in Utrecht. Die Funktionen seien einfach zu bedienen und auch für Installateure solle es leichter werden, die Technik ins Haus zu bringen.

Neue Gefahren

Der zunehmende Einsatz von Computern schafft allerdings auch neue Risiken. Alles, was am Internet hängt, kann potenziell gehackt werden. Das Haus der Zukunft ist angreifbar. «Schutz und Sicherheit von Nutzungsdaten sind entscheidend für die Akzeptanz von Smart-Home-Angeboten», sagt etwa Alwine Mohnen, Professorin an der Technischen Universität München, die die Ansprüche von Konsumenten an Smart Homes in Deutschland untersucht hat.

Meine Daten in der Wolke

Eine weitere offene Frage ist, was mit den anfallenden Daten passiert. Hier marschiert man bei ABB jedoch schon vorne weg: Anders als Google und Apple, die ebenfalls in den Smart-Home-Markt eingestiegen sind, macht der Schweizer Konzern kein Geschäftsmodell aus der Datenvermarktung, wie Caviezel versichert. «Die Daten der Kunden werden in unserer eigenen Cloud gespeichert.» Diese zu verwenden, um den Hausbewohnern beispielsweise personalisierte Werbung anzubieten, sei nicht im Sinne ABBs: «Die ABB Cloud ist eine rein technische Plattform, welche die Funktionalität der Applikationen sicherstellt.»

Das Zuhause bleibt gemütlich

Gänzlich der digitalen Technik ausgeliefert werden wir ohnehin wohl auch in Zukunft nicht sein, beruhigt das GDI: «Unsere Wohnung wird 2030 wie ein Smartphone funktionieren, aber trotzdem kein Science-Fiction-Haushalt sein. Denn je digitaler unsere Welt, desto stärker keimt als Gegentrend die Sehnsucht nach dem «Realen» und «Authentischen» auf.» Viele Innovationen fänden deshalb unaufdringlich und im Hintergrund statt. «Trotz Vernetzung bleibt das Zuhause gemütlich.»

Wenn ich im Container in Utrecht für einen Moment die Augen schliesse und mir vorstelle, der Fernsehmodus aktiviert sich in meinem eigenen Wohnzimmer, kann ich diese Einschätzung nur unterstreichen. Und der Gegentrend zum «Realen» lässt hoffen, dass auch 2030 das Popcorn und das Bier zum Filmabend noch nicht aus dem 3-D-Drucker kommt, auch wenn die Technik gar nicht mehr so weit davon weg ist, wie man glauben mag.

Text auf aargauerzeitung.ch